Das Mädchen mit den Kunstpflanzen

Das Mädchen mit den Kunstpflanzen

7. Klasse, Deutschunterricht. Ich hatte ein Buchprojekt geplant: Jede:r Schüler:in durfte ein frei ausgewähltes Buch in einem „Lesecafé“ vorstellen. Eigentlich sollte das Projekt nur zur eigentlichen Aufgabe hinführen, nämlich eine Leser:innenkritik zu schreiben. Die Schüler:innen sollten durch das Lesecafé inspiriert werden und sich dann im Anschluss für ein Buch entscheiden, zu dem sie dann die Kritik verfassen sollten. Dass das Projekt derart ausarten würde, war mir zu dem Zeitpunkt absolut nicht bewusst.


Die Anforderung an das Lesecafé war, eine Art „Marktstand“ aufzubauen, an dem das Buch vorgestellt werden sollte: Mit einer kurzen Zusammenfassung der Handlung, aussagekräftigen Zitaten, Bildern oder Gegenständen, die den Inhalt des Buchs gut beschreiben und einen Flyer zum Mitnehmen.


Das Lesecafé wurde dann in zwei Runden durchgeführt: Die eine Hälfte stellte vor, die andere Hälfte ging als Besucher:innen durch. Ich war schon gespannt auf die Ergebnisse und freute mich auf die Durchführung – doch mit dem, was dann passierte, hatte ich absolut nicht gerechnet.


Es klingelte und die Schüler:innen erschienen nach und nach im Klassenraum – manche trugen riesige Kartons bei sich, was mich schon etwas verwirrte. Dann fingen sie an, ihre Stände aufzubauen. Und ich traute meinen Augen nicht. Da gab es Schülerinnen (ja ich geb’s zu, es waren nur Mädels), die einen RICHTIGEN MARKTSTAND gebastelt hatten. Eifrig bauten sie ihre riesigen Konstrukte auf den Tischen auf, dekorierten, drapierten, füllten Snacks in eine Schüssel. Und stellten sich dann erwartungsvoll hinter ihren Stand.


Und dann gab es diese eine Schülerin. Sie war bisher eher unauffällig gewesen, etwas zerstreut, hatte meistens ihre Sachen nicht parat und arbeitete im Unterricht oft nicht mit. An diesem Tag erschien sie mit Kunstpflanzen, einer Lichterkette, einem kunstvoll gebastelten Marktstand. Und welches Buch stellte sie vor? „Das Bildnis des Dorian Grey“ von Oscar Wilde. Ihr Lieblingsbuch. Mit 13 Jahren.


Doch nicht nur das: Sie hatte eine uralte Ausgabe des Buches dabei, das man nur mit Handschuhen anfassen dufte. Das hatte sie aus der Bibliothek ihres Onkels, erzählte sie mir. Zusätzlich hatte sie ein selbst gemaltes Bild von Dorian Grey parat. Dieses Mädchen war eine Künstlerin durch und durch. Und ein Kind, das Literatur liebte – und dennoch im Deutschunterricht schlechte Noten erhielt.


Wenn ich den Schüler:innen ein Buch vorgegeben hätte, hätte ich das alles nicht erfahren. Ich hätte nicht gesehen, mit was für einer Leidenschaften die Kinder ihre Lieblingsbücher vorstellen, wie sehr sie sich dafür ins Zeug legten – weil es IHR Buch war. Weil sie etwas vorstellen durften, mit dem sie sich identifizierten, mit dem sie eine echte Verbindung hatten. Ich werde die strahlenden Augen, mit denen sie mir von ihren Büchern erzählten, nie vergessen. Und besonders dieses Mädchen nicht, das ich so verkannt hatte, weil es im Unterricht sonst nie die Chance bekam, ihre Talente zu zeigen.


„Projektarbeit“ klingt erstmal nach einer trockenen Methode, nach etwas Anstrengendem, das man sich aneignen muss, das man mühsam vorbereiten muss – aber es ist so viel mehr als das. Es ist eine Chance für Schüler:innen, die nicht mit dem engen Unterrichtskorsett klarkommen, endlich zu glänzen. Für mich bedeuet Projektarbeit vor allem Freiheit – sowohl für Schüler:innen, als auch für Lehrkräfte, wenn sie sich wahrhaft darauf einlassen.

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